
Am Pangong Tso Lake im Himayala Gebirge, ein Salzwasser-See 4.250 Meter über dem Meeresspiegel – © Andreas Wochenalt
Nach knapp 17 Monaten als Expatriate in Indien kehre ich vorerst nach Europa zurück. Zusammen mit meinem Kollegen Chris Kunzendorf leitete ich den indischen Standort der Serviceplan Gruppe in der Funktion als Executive Creative Director.
Ein paar Bilder und Videos dazu.
Während meines Aufenthalts habe ich viel gesehen und gelernt. Vor allem aber bin ich interessanten Menschen begegnet. Ich habe neue Freunde aus Deutschland, England, Korea und USA gefunden. Und selbstverständlich prägten Inder aus unterschiedlichen sozialen Schichten und Regionen meinen Aufenthalt.
Beruflich und privat begegnete ich quirligen Westbengalen, stolzen Sikhs aus dem Punjab, gelassenen Goanesen, leidenschaftlichen Assamesen, freundlichen Ladakhis … es war von Anfang an klar: Indien und seine Gesellschaft ist als Ganzes nicht begreifbar. Nicht in 17 Monaten. Man sagt, es reicht kein ganzes Menschenleben um Indien und seine Gesellschaft zu begreifen. Und sicher reichen kein einzelnes Buch (Link) oder diverse Reiseberichte um Indien gerecht zu beschreiben.
Es ist, als ob man versuche die Stereotypen und Kulturen der Menschen aus ganz Europa, egal ob Norweger, Belgier oder Rumänen, auf einen Nenner zu bringen. Das fällt schwer. Jetzt probier das mal bei einem Subkontinent mit doppelt (!) so vielen Einwohnern wie in Europa. Und wo ca. 363 Millionen Menschen weniger als 70 €-Cent pro Tag zur Verfügung stehen.
Pro Tag 70 Cent! Das von der Regierung ernannte Expertengremium (Rangarajan-Kommission) kam zu dem Schluss, dass ein Einkommen von 0,70 EUR pro Tag ausreiche um Nahrung, Bildung und Gesundheit zu finanzieren. Wer weniger zur Verfügung hat, gilt offiziell als “arm”. Das betrifft rund ein Drittel (!) der indischen Gesamtbevölkerung – was fast der Hälfte der Einwohnerzahl Europas entspricht. Dem steht eine intellektuelle und/oder ökonomisch potente Elite von ca. 175.000 Dollar-Millionären und 55 Dollar-Milliardären gegenüber. Indien ist ein Land der Extreme.
Die Unterschiede zwischen den Regionen und deren Einwohner, die spirituellen und religiösen Hintergründe im Alltag und all die unterschiedlichen Kulturen sowie die sehr offensichtlich gezogenen Trennlinien zwischen den unterschiedlichen Kasten und Berufsgruppen – all das hinterlässt Eindrücke, die man als Europäer kaum verarbeiten kann.
Beruflich war und ist es ein einzigartiges Erlebnis die Digitalisierung Indiens mitzugestalten- z.B. mit Content Marketing für BMW. Was wir im Medienwandel in den letzten 20 Jahren in Europa erlebt haben, verändert hier innerhalb von nur wenigen Monaten das Leben von vielen Millionen Menschen.
Dabei ist in vielerlei Hinsacht auch eine Überforderung festzustellen – vor allem mit der Partizipationskultur im Netz. Die notwendige Media Literacy existiert faktisch nicht. Was sagen Millionen Menschen, die plötzlich eine Stimme haben? Was eint die Menschen aus all diesen Bundesstaaten und mit all diesen vielen unterschiedlichen Sprachen und Religionen?
Cricket? Bollywood? Sind deswegen in Indien so oft die Schauspieler und Sportler die Leitbilder in der Werbung!? Die absurd vielen Kampagnen mit Testimonials scheinen grotesk. Das wird sich vielleicht bald ändern. Aber was bleibt ist ein enorm großer Bedarf an Orientierung. Das ist auch von einer riesigen Medienlandschaft, wie es sie in Indien gibt, kaum zu bewältigen.
“The Great Indian Chamcha” – eine großartige Kampagne der ‘Times Of India’ (Link):
Während wir uns also in Europa seit 20 Jahren langsam an den Umbruch in der Medienlandschaft herantasten, findet in der kommerziellen Kommunikation Indiens der Wandel von Propaganda zu Werbung zum Dialog unmittelbar und radikal statt. Und ich habe den Eindruck, in Indien lernt man schneller mit den Neuen Medien umzugehen.
Besonders spannend ist der Wirtschaftsraum Indien für ausländische Investoren im Bereich Konsumgüter:
Denn Indiens (junge) Mittelschicht umfasst rund 200 Millionen Menschen, Tendenz wachsend. Das entspricht fast der gesamten Einwohnerzahl von Deutschland, Großbritannien und Frankreich zusammen. Und diese Mittelschicht ist attraktiv.
Auch wird es interessant sein zu beobachten wie Indiens Kommunikationswirtschaft im Jahr 2015 auf die zunehmend mobile Nutzung der Angebote reagiert. Indien sprengt dabei alle uns Europäern bekannte Dimensionen und bewegt sich trotzdem oft (mangels flächendeckendem Netzausbau) im noch semi-analogen Mittelalter – siehe mein Beitrag “Das Telefon als interaktives Radio” (Link)
[…] ich erlebe hautnah einen einzigartigen Wandel in der Kommunikationswirtschaft. Und das in einem Land mit 1,3 Milliarden Einwohnern – von denen bis vor kurzem nur 10% Zugang zum Internet hatten. Google spricht dabei von “The Next Billion”. Eine tolle Erfahrung für mich.
Aus meinem Beitrag “Googles finale Schlacht in Indien: Android One startet durch” (Link)
Ob digitale Güter und Dienstleistungen tatsächlich das Big Business in Indien werden, wird sich zeigen. Es herrscht Euphorie in der Kommunikationswirtschaft Indiens. “Als gäb’s kein Morgen mehr” mag auch ein adäquates Party-Motto am Strand von North-Goa sein. Doch neben einem in der Priorität der Politiker weit unten gereihten Bildungssystem *) leidet das Land auch unter einer unbeschreiblich großen ökologischen Verwahrlosung.
Tatsächlich entspricht für die Einwohner der Hauptstadt Delhi die durch die Luftverschmutzung bedingte Belastung der Lunge dem Konsum einer Packung Zigaretten täglich. **) U.a. auch wegen der vielen Hunderttausenden kleinen Müllverbrennungen mit denen sich die Menschen auf den Strassen in den feucht-nebeligen Winternächten wärmen. Diese vielen Glutnester am Strassenrand erzeugen gemeinsam mit der Industrie und dem Verkehr in den Strassen der Städte eine unvorstellbare Umweltbelastung.
Aber Indien hat auch viel Schönes und Liebenswertes zu bieten (siehe Video unten). Und ein wenig, ein ganz klein wenig durfte ich in diesen knapp 1 1/2 Jahren kennenlernen. Viel zu wenig, ich weiß.
Was ich mit nach Hause nehme sind jedoch auch Eindrücke die bizarr, skurril und manchmal sogar verstörend sind. Vor allem der ausgeprägte Fatalismus vieler Menschen ist für Ausländer eine Herausforderung im beruflichen Alltag.
Doch wer sind wir, dass wir Indien und seine Gesellschaft richten und werten? Es ist noch gar nicht so lange her, da hatten wir in Europa einen Ständestaat, und Frauen waren weder im politischen Sinne noch bei der Wahl ihrer Ehemänner wahlberechtigt.
[…] wie immer in diesem Land gilt es für Ausländer die Kultur und Gegebenheiten Indiens wertfrei zu betrachten. Indien ist stolz auf seine Kultur, seine Traditionen, seine wirtschaftlichen Perspektiven und seine wissenschaftlichen Errungenschaften. In vielen Bereichen zurecht. Es ist manchmal schwierig sich damit zu arrangieren. Aber Indien ist und bleibt ein faszinierendes Land.
Aus meinem Beitrag “Indien zwischen Säkularisierung und Theokratie” (Link)
Ich bin sehr froh, dass ich die Gelegenheit hatte gemeinsam mit Chris Kunzendorf in Indien zu arbeiten. Und all die vielen Menschen kennenzulernen – Kollegen, Kunden, Expats, Freunde. Am Ende überwiegen die positiven Erfahrungen, und es bleiben Erlebnisse und Bilder die viel im Kopf zurecht rücken. Ein tolle Erfahrung.
Die Welt wurde größer für mich – Dhan’yavāda India!
Ach ja, falls jemand einen zu 100% verlässlichen, ehrlichen und professionellen Fahrer im Großraum Delhi benötigt – ich kann Mr. Balwinder Singh nur empfehlen. Ein in allen Lebenslagen hilfreicher Mensch und Freund – धन्यवाद, Balwinder Ji!

The best driver in India – Mr. Balwinder Singh, mailto veerlongia@gmail.com – Diwali Festival 2014, Serviceplan India Office, Gurgaon