Es sind erschütternde Zahlen, die durch die Weltbank, UNICEF und andere glaubwürdigen Quellen belegt werden: Jedes Jahr werden in Indien mindestens 100.000 Frauen wegen einer aus Sicht des Ehemanns unzureichenden Mitgift bei lebendigem Leib verbrannt. Jeden Tag (!) verhungern in Indien 3.835 Kinder. Also rund 1,4 Million Kinder pro Jahr. Ein Zehntel der indischen Bevölkerung – also rund 104 Millionen Menschen – werden 2017 in Slums leben. Eine Folge der laufend stattfindenden Landflucht aufgrund der ökonomischen Aufstiegschancen im urbanen Lebensumfeld und um sich dem Einfluss des Kastenwesens zu entziehen.
All dies in einem demokratischen Land mit offensichtlich ausreichenden finanziellen Mitteln und aufgrund seiner Geschichte und Ressourcen guten Voraussetzungen dem ein Ende zu setzen. Was sind die Ursachen?
Das Buch „Indiens verdrängte Wahrheit“ von Georg Blume und Christoph Hein zeichnet ein dramatisches Bild des Subkontinents. Ich mag nicht allem zustimmen, was bzw. wie es im Buch dargestellt wird. Aber es fällt mir schwer. An manchen Tagen sogar sehr schwer. Auch – oder eigentlich besonders – aus der Perspektive eines Expatriate gesehen:
Das Unternehmen Indien
Der riesige Wirtschaftsraum in Indien stellt sich nach wie vor vielversprechend dar. Dafür gibt es auch eine einfache Erklärung – fast zu einfach, wie ich meine:
Die Produktionskosten in China steigen, weshalb auch die Exportrate in Indien steigt. Und zur Produktion der Exportgüter benötigt man u.a. neue Maschinen – im Idealfall aus Europa. Das seit 2007 in Verhandlung stehende Freihandelsabkommen zwischen der EU–Kommission und der indischen Regierung sollte demnach das Außenhandelsvolumen verdoppeln. Sieht am Reißbrett ganz gut aus.
Aber die Zahl der deutschen Unternehmen, die ihr Engagement bzw. Investitionen verringern, wird mittlerweile größer (von 4% im Jahr 2011 auf 10% im Jahr 2012). Gleichzeitig sinkt die Zahl deutscher Unternehmungen mit dem Willen die Investitionen deutlich zu steigern von 44% (2011) auf 25% (2012).
Unter anderen wegen mangelnder Rechts- und Patentsicherheit. Das sorgt für Kopfschütteln und Kopfweh in den internationalen Konzernzentralen. Indien ist für Wirtschaftstreibende mehr denn je eine Herausforderung. Und für deren Manager. Der Bericht über die aktuellen Geschehnisse rund um den BMW-Manager Stefan David Schlipf illustriert die Umstände für ausländische Manager sehr gut (Link) .

Stefan David Schlipf bei seiner Verhaftung im Sommer 2014 – vollkommen unberechtigt, wie sich hoffentlich bald herausstellen wird
Das Prinzip Hoffnung
Der Subkontinent ist nicht als einheitlicher Wirtschaftsraum zu sehen. Doppelt so viele Einwohner als in der EU, mehrere Schriften, unzählige Sprachen, Dialekte, Völker, Religionen – und Kasten. All dem steht eine Modernisierungspolitik gegenüber, die zwar permanent kommuniziert wird, aber tatsächlich nur sehr eingeschränkt umzusetzen ist.
Zum Beispiel ist das Problems des Wassermangels in vielen Regionen Indiens kaum zu lösen. Ein schwacher Monsun kann eine Hungerskatastrophe unerreichten Ausmasses auslösen. Denn 60% der Menschen des agrarisch geprägten Indiens sind von einer funktionierenden Landwirtschaft abhängig. Die Autoren des Buches meinen, dass, wenn es einen Krieg in dieser Region gäbe, das Wasser der Grund dafür sein könnte. Denn China verwaltet über das besetzte Tibet viele Flüsse, die nach Indien fliessen. Ein Umstand, der für ein Land, das zwar 18% der Weltbevölkerung beheimatet aber nur über 4% der globalen Wasserressourcen verfügt, ein Damoklesschwert darstellt.
Indien hat also massive Probleme in der Infrastruktur, die sich kurzfristig und nachhaltig kaum lösen lassen. So stellt es sich zumindest mir dar. Da können auch gigantische Investitionsprojekte, wie z.B. der Ausbau der Metro in New-Delhi, nicht darüber hinweg täuschen. Die nahezu schon institutionalisierten Probleme mit dem Verkehrsaufkommen und der Luftverschmutzung in der 16,3 Millionen Agglomeration sind mit dem Ausbau der Metro noch lange nicht gelöst. Reduziert, aber nicht gelöst.
The Know How Gap
Im Austausch mit anderen Expats in Indien ist auch immer wieder das Ausbildungsniveau der indischen Kollegen ein Thema. Der Ökonom Rajiv Kumar stellt in einem Interview die Situation sehr drastisch dar:
“Die sogenannten besten Universitäten dieses Landes bringen manchmal keine einzige geistes- oder sozialwissenschaftliche Doktorarbeit in fünf Jahren hervor. Wenn Sie sich die Universitäten in der Provinz ansehen, die einmal gute Bildungsinstitutionen waren: Sie sind am Ende. Sie haben Gebäude und Zombie-Dozenten; sie existieren, aber es geschieht da nichts. Und dann werden sie zunehmend durch unseriöse private Anbieter ersetzt, die fragwürdige Diplome ausgeben. Grob geschätzt, sind 80 Prozent der Hochschulabsolventen in Indien gar nicht beschäftigungstauglich.“
Für ausländische Unternehmungen wird das Indien-Abenteuer also nicht billig. Vor allem die Anstellung von Top-ausgebildeten indischen Experten oder die Entsendung von eigenen Fachkräften nach Indien ist ein mit hohen finanziellen Aufwänden verknüpfter Bedarf, den viele Business-Strategen nicht wahr haben wollen. Und indische Fachkräfte suchen auch gerne den Weg ins Ausland. So nebenbei mal im indischen Markt etwas probieren ist also keine Strategie.
Nicht zu vergessen der in dem Buch beschriebene “Filz” aus Korruption und Bürokratie. Ein systemimmanentes Problem, dass im Geschäftsleben einer Fahrt mit permanent angezogener Handbremse gleicht, und zwar weit über dem gewohnten Geschwindigkeitslimit.
Die Kaufkraft Indiens
Derzeit ist das allgemeine Investitionsklima also, gelinde gesagt, beeinträchtigt. Und trotzdem “muss” man in Indien investieren, so der Tenor im Austausch mit Managern ausländischer Firmen. “Eins-Komma-Drei Milliarden Einwohner, der Großteil unter 30 Jahre alt!“, wird sehr oft in der Diskussion über den indischen Wirtschaftsraum geschwärmt. Es herrscht also nach wie vor eine Art Goldgräber-Stimmung. Konzerne wie Amazon und PepsiCo investieren Milliardenbeträge in die indischen Ausbaustufen. Bosch und Siemens schwimmen dort seit Jahren wie der Fisch im Wasser, so die Autoren des Buchs. Aber alle unter besonderen Bedingungen. Und wie sieht es für Retailer und Markenartikler aus, die nicht schon seit Jahrzehnten in Indien Geschäfte machen?
Rosig, wenn man bedenkt, dass Indiens Mittelschicht rund 200 Millionen Menschen umfasst, Tendenz wachsend. Das entspricht fast der gesamten Einwohnerzahl von Deutschland, Großbritannien und Frankreich zusammen. Welcher Möbelhändler und Automobilhersteller wird da nicht schwach?
“Geht es der Wirtschaft gut, geht es uns allen gut” propagiert die österreichische Wirtschaftskammer immer wieder im eigenen Land. Nicht so in Indien. Wer über die Kaufkraft der indischen Bevölkerung nachdenkt, muss sich auch dem Umstand widmen, dass ca. 1 Milliarde der Menschen in Indien der Unterschicht angehören oder unter die Armutsgrenze fallen. Für viele geht es schlicht ums nackte Überleben. Und das ist als Ausländer nicht auszublenden. Es sei denn, man ist völlig degeneriert. Armut hat hier eine andere Dimension:
Insgesamt 363 Millionen Inder werden als arm eingestuft. Dies entspricht rund einem Drittel (!) der indischen Gesamtbevölkerung und fast der Hälfte der Einwohnerzahl Europas. Die Definition von Armut ist eindeutig festgelegt: Für das Leben in Dörfern sind mindestens 32 Rupien (ca. 0,4 Euro) und in Städten 47 Rupien (ca. 0,6 Euro) pro Tag nötig, um NICHT als arm zu gelten.
Die ursprünglichen Ergebnisse dieses Gutachtens eines von der Regierung ernannten Expertengremiums (Rangarajan-Kommission) sickerten an die Medien durch und erhöhten den Druck auf die neue Regierung. Denn die ersten Einstufungen waren sogar viel dramatischer: Wer auf dem Lande lebt und ein tägliches Einkommen von 27 Rupien (0,3 Euro) hat oder in der Stadt 33 Rupien(ca. 0,4 Euro) verdient, sollte demnach nicht als arm eingestuft werden. Die Kommission kam damals zu dem Schluss, dass dieses festgelegte Einkommen ausreiche, um Nahrung, Bildung und Gesundheit zu finanzieren. Gelobtes Land!
Die Folge: Die Betroffenen verlieren ihren Anspruch auf subventionierte Lebensmittel, die für Bedürftige im sogenannten öffentlichen Verteilungssystem des Staates erhältlich sind. Ein Nährboden für Widerstand. Und ein aufgelegter Elfmeter für Politiker, die schnell mal Punkte bei gut 30% der Wähler machen wollen. Die Kommission nahm nach Protesten die oben erwähnten Korrekturen vor, doch die Kritik hält weiter an. Zu Recht.
Nur zur Orientierung: Ein Chicken Maharaja Mac von McDonalds, vergleichbar mit dem Big Mäc, kostet ca. 109 Rupien (1,3 Euro). International wird die Armutsgrenze bei ca. 0,9 Euro angegeben.
Aber spürbare Veränderung wird es kurz- und mittelfristig nicht geben. Der Grund für die Armut ist, wie auch in anderen Ländern, mangelnde Bildung. Über 70 Millionen indische Kinder im Alter von 7-14 Jahren arbeiten statt zur Schule zu gehen. Das kommt der Einwohnerzahl Deutschlands nahe. Kann eine Demokratie mit so vielen Menschen ohne Bildung in Zukunft überhaupt funktionieren? Oder sind die Millionen indischen Analphabeten bloß willenloses Wählermaterial, das von den Führern der mächtigen Familien-Clans, neureichen Feudalherren oder lokalen Stimmungsmachern mit teils fragwürdigen Mitteln (Ausschank von Alkohol) zu den Wahlkabinen geführt wird? Ich glaube nicht, dass fehlende Bildung automatisch zu politischer Unmündigkeit führt.
Trotzdem ist die Frage berechtigt: Ist die “größte Demokratie der Welt” in Wahrheit eine Luftblase? Das Buch „Indiens verdrängte Wahrheit“ erklärt zumindest einiges. Warum Indiens intellektuelle und ökonomisch potente Elite an den in vielen Bereichen verrotteten Zuständen im eigenen Land nichts ändern will, beantworten die Autoren (siehe Video unten) mit der zutiefst verwurzelten Verachtung gegenüber den niederen Kasten. Die Empathie fehlt. Mitgefühl kann man sich in der indischen Gesellschaft eigentlich nicht leisten.
Warum dieses Buch lesenswert ist.
Ich stimme den Autoren nicht zu, dass es von einem Ausländer Mut erfordert Indien und die Gegebenheiten hier zu kritisieren. Das fällt vielen Expats, die in Indien leben sehr leicht. Aber ich kann die Empörung von Georg Blume und Christoph Hein über die Gleichgültigkeit und Systemfehler sowohl in der indischen Gesellschaft als auch bei den ausländischen Unternehmungen in Indien nachvollziehen. Die Autoren betonen ausdrücklich, dass dieses Buch keine Kritik an eine Zivilisation ist. Und auch nicht als apodiktisch zu verstehen ist. Die sg. Streitschrift soll aufzeigen und Orientierungshilfe geben. Und das tut sie hervorragend.
Für ausländische Unternehmer in Indien gilt:
Der Weg “Zur schönen Aussicht” auf großartige Geschäftschancen ist in Indien ein steiler Anstieg. Der kann sich für viele durchaus lohnen. Aber am Wegrand sieht man auch verhungernde Kinder, bitterste Armut und eine unbeschreiblich große ökologische Verwahrlosung des Landes.
Und man sieht weniger Frauen als Männer. Ein Schwerpunktthema des Buchs. Um die darin mit harten Worten (Genozid, Genderzid, Völkermord) und sehr ausführlich beschriebenen Praktiken der Frauenvernichtung im Alltag zu bemerken, wie z.B. die Abtreibung weiblicher Föten, unzureichende medizinische Versorgung für weibliche Mädchen oder die große Zahl von Brautverbrennungen, muss man aus der Expat-Komfortzone raus (wollen). All jenen, denen Indien nicht egal ist, empfehle ich zumindest dieses Buch zu lesen.
Und dabei trotzdem nicht den Blick für das Schöne, Gute und Besondere in diesem Land zu verlieren. So wie auch ich es immer wieder wahrnehme. Noch einmal ein Zitat aus dem Interview mit Rajiv Kumar: “Das ist das große Experiment, das hier abläuft. Es ist manchmal frustrierend, aber auch sehr interessant.”
Ein Gespräch mit den beiden Autoren mit teilweise erschütternden Berichten aus dem Buch (Beginn bei ca. 12 min):
Link zum Buch: „Indiens verdrängte Wahrheit“, Georg Blume / Christoph Hein, edition Körber-Stiftung, 2014